Von der Faszination zur Verinnerlichung
Doris Echlin ist Ausbildnerin an verschiedenen Yogaschulen und Leiterin der „Akademie für Hatha-Yoga”. Sie hat Ausbildungen zur Yogalehrerin in Los Angeles (Sivananda, Iyengar, Pattabhi Jois) und beim BDY/EYU absolviert, außerdem Ausbildungen in Physiotherapie, Neurologie, Tanztherapie und Musik sowie Zusatzausbildungen in Spiraldynamik und Sensorischer Integration.
Für Yoga Austria leitete sie 2014 ein Weiterbildungsseminar zum Thema Wirbelsäule. Alexandra Eichenauer-Knoll stellte ihr im Vorfeld dazu ein paar Fragen.
Liebe Doris Echlin, du kannst auf eine fast 40-jährige intensive Yogapraxis zurückblicken. Wenn du die Anfänge mit deiner heutigen Praxis vergleichst – wo siehst du die wesentlichsten Unterschiede?
Doris Echlin: Vielleicht ist es hilfreich, kurz über den Kontext meiner ersten Yoga-Praxis zu sprechen. Ich war noch sehr jung und lebte in Los Angeles in einer Zeit, in der alle Traditionen über Bord geworfen wurden. Es gab nirgendwo mehr Anhaltspunkte – allein Erfahrungen zählten. Mit dieser Experimentierfreudigkeit begann ich intensiv zu praktizieren. Am Anfang war ich einfach fasziniert vom breiten Spektrum der Yoga-Techniken und den spannenden Wirkungen, die sich sehr schnell einstellten. Ich entdeckte vor allem die Möglichkeiten meines Energiekörpers und erlebte außergewöhnliche Phänomene. Für alle diese Ereignisse, die sich in mir abspielten, hatte ich jedoch keine Erklärungsmodelle. Ebenfalls fehlte mir – trotz 10 Jahren regelmäßigen Unterrichts – eine tiefere Beziehung zu meiner Yogalehrerin. Die Praxis war alles, was ich hatte – sie stand aber ohne ethische oder soziale Einbindung lose im Raum und ich verlor mich teilweise in den Erfahrungen. Aus meiner heutigen Sicht fehlte die ganze Untermauerung wie auch die innere Ausrichtung für eine derart intensive Praxis.
Nun habe ich mich viele Jahre mit der tieferen Sichtweise des Yoga auseinandergesetzt und gleichzeitig weiter geübt. Die erste Faszination hat sich in eine Liebe zur Tiefe und Verinnerlichung verwandelt. Ich verfolge den Inhalt der sich langsam entschlüsselnden Praktiken und bleibe konsequent und lange an einem gewählten Fokus. Anstelle der Suche nach stetig neuen Erlebnissen und noch spezielleren Übungen hat sich eine zunehmende Vereinfachung eingestellt. Die Praxis steht nun in größerer Verbundenheit zu Allem. Sie ist mein Weg, mich dem Mysterium „Leben“ anzunähern.
Von dir stammt das Zitat „Jede Yogastunde ist ein Ausstieg aus unseren gewohnten Denk-, Bewegungs- und Atemmustern. Diese Erfahrung kann in jeden Moment des Alltags übertragen werden. Wo eng, werde weit und schau, was geschieht.“ Kannst du das bitte genauer erklären, vielleicht anhand eines Beispiels?
Doris Echlin: Im Alltag sind wir wie gehetzte Rehe – gehetzt von unseren eigenen Gedanken und inneren Antrieben. Meist verpassen wir das Erleben des sich präsentierenden Momentes. Auch die großen Fragen des Lebens hören wir kaum noch in unserem Innern. Unsere Aufmerksamkeit ist sehr stark auf unser Individuum fixiert, welches alles wie ein starkes Gravitationsfeld auf sich zu zieht und auf sich bezieht. Wir verlieren die Einbindung in ein Ganzes und identifizieren uns mit unseren Gedanken, unseren psychischen Strukturen, sprich mit unserem isolierten ICH.
Die Yogapraxis kann vorerst als Entschleunigungsprozess gesehen werden, in dem der Moment wieder eine Chance hat, entdeckt zu werden. Der verzettelte Geist wird auf einen Fokus geführt, um den Weg in die Tiefe, ins Innere finden zu können. Dazu werden meist Körper und Atem genutzt. Wir können zum Beispiel dem eigenen Atem lauschen und seine verschiedenen „Spielmuster“ entdecken. Oder die Hände auf den Bauch legen und spüren, wie und wo der Atem sich auf den Bauchraum auswirkt. Sobald wir uns in dieses Spüren einlassen, verlassen wir unser „kleines besorgtes ICH“ und der Moment erhält seine einzigartige Lebendigkeit zurück.
Dieses kleine Beispiel lässt sich gut in den Alltag umsetzen. Vielleicht bemerken wir, wann unser Atem stockt oder abflacht und können uns wieder mit unserem Innern vernetzen. Wir werden dann sowohl andere Empfindungen wie auch neue Möglichkeiten in unsere Situationen bringen.
Mein zentrales Anliegen in der Vermittlung des Yoga besteht darin, diese neuen Freiräume erfahrbar zu machen. Erst wenn wir uns mal „anders“ erleben – offener, entlasteter, gelöster, freier – können wir zunehmend unsere eigenen „Engheiten“ wahrnehmen und eine neue Wahl treffen. Gleichzeitig geht es in unserer Kultur um ein „Ganzwerden“ – aus dem überstrapazierten Kopfmenschen zu einem ganzheitlich lebendigen Wesen. Es sollte sich eine Empfindung von Einkehr und Konfliktlosigkeit während des Praktizierens bemerkbar machen, als ob der Kopf sich in alle Zellen verteilte und dort ruhig verweilen könnte. Erst auf dieser Grundlage sollten tiefere Reinigungsprozesse und energetische Fokussierungen – sprich alle intensiven Praktiken – eingesetzt werden.
Was bedeutet „Viveka“ für dich persönlich?
Doris Echlin: Ganz streng genommen ist Viveka die große Unterscheidungskraft, welche das Echte vom Unechten, das Reine vom Unreinen zu trennen weiß. Diese Formulierung basiert auf dem Konzept, dass es zwei unterschiedliche Wirklichkeitsebenen gibt – eine wirkliche (die Absolute) und eine unwirkliche (die Relative). Für mich wird Viveka lebendig durch den Wunsch, sich „dem Echteren“ zuzuwenden, innere Fragen zu stellen, zu warten und zu horchen. Somit reduziere ich den absoluten Aspekt von Viveka, übe aber an diesem für mich enorm wichtigen Unterscheidungsprozess.
Du bietest eine Ausbildung zum/zur Yogalehrer/in in der Schweiz bzw. in Deutschland an, die im Vergleich zu anderen Ausbildungen sehr zeitaufwändig und auch kostspielig ist – sie dauert vier Jahre und beinhaltet auch einen Indien-Aufenthalt. Warum ist diese Vertiefung aus deiner Sicht wichtig, ehe man anfängt, das Erfahrene weiterzugeben.
Doris Echlin: Die Ausbildung beinhaltet zwei wichtige Aspekte: Einerseits möchte sie die Chance anbieten, mit den Praktiken des Yoga selber wachsen zu können, anderseits sollten alle Werkzeuge des Hatha-Yoga geklärt werden, sodass sie sinnreich eingesetzt werden können. Es ist für mich zwingend, dass jemand, der unterrichtet, die Wirkweise der Yogainstrumente aus eigener Erfahrung kennt.
Der Yoga hat ein vielschichtiges Wachstum über Tausende von Jahren erlebt. Gleichzeitig hat die Yogatradition Indiens immer berücksichtigt, dass unsere Wesen verschieden sind. Da gibt es viel zu sortieren. Was wurde alles über diesen großen Zeitraum geübt, was ist heute sinnvoll? Welche kulturellen Anpassungen sind nötig? Welcher Yogaweg spricht mich an – wozu habe ich eine innere Resonanz? Die Ausbildung bietet die Möglichkeit an, das immense und verwobene Feld des Yoga zu durchwandern und nach einer großen Klärung sein Eigenes zu gestalten.
Drei Faktoren beeinflussen die Kosten unserer Ausbildung: Die Struktur der Blöcke, die Indienreise und die Außendozenten, die ihr Spezialgebiet einbringen. Die Blockstruktur von jeweils vier Tagen dient einer Vertiefung des Stoffes, einem intensiven Gruppenaustausch wie auch einem längeren Rückzug aus dem gewohnten täglichen Umfeld. Die finanziellen Folgen davon sind zusätzliche Übernachtungskosten – beziehungsweise Reisekosten für Indien. Die Indienreise hat sich jedoch zum wertvollsten Baustein der Ausbildung entpuppt.
Du kommst im Jänner nach Wien, um ein Seminar über das Verständnis der Wirbelsäule im Hatha Yoga zu halten („Grobstoffliche Praxis – energetische Prozesse“). Was genau erwartet die Teilnehmer/innen?
Doris Echlin: Ich würde mich freuen, wenn es gelingt, über die Erfahrung der Wirbelsäule hinaus in eine tiefere lebendige Verbindung einzutreten. Die Teilnehmer/innen können bestimmt eine undogmatische und spielerische Art der Vermittlung erwarten. Diese beinhaltet sowohl präzises Körperwissen, eine spürige Arbeit am eigenen Körper anhand von gewählten Asanas und vielleicht ein Erahnen vom tieferen Inhalt des Yoga.
Auf deine Homepage hast du ein Zitat von Pema Chödron gestellt: „Wir sind ein widersprüchliches Bündel, das ein reiches Potential sowohl zur Neurose als auch zur Weisheit enthält.“ Wo in dem weiten Spektrum zwischen Neurose und Weisheit siehst du dich selbst?
Doris Echlin: Wenn ich mich im Mittelpunkt sehe und alles auf mich beziehe bin ich im Feld der Neurose. Die Empfindung dieses Feldes fühlt sich hektisch und eng an. Wenn es mir gelingt, mich aus dieser Ichbezogenheit zu lösen, dann leuchtet etwas anderes auf. Ob dies bereits als Weisheit bezeichnet werden kann, weiß ich nicht. Es ist ein Prozess in Richtung Erkenntnis. Bereits die Schritte auf diesem zweiten Feld sind jedoch zutiefst beglückend. Meine Wahl und mein Fokus sind klar. Die Praxis unterstützt das letzere Feld, aber der Alltag überfordert mich konstant mit seiner Schnelligkeit und Wucht. So hüpfe ich weiterhin von Feld zu Feld – vielleicht etwas weniger?
In einem Interview mit dir habe ich gelesen, dass du Yogaschüler/innen rätst, sich weiterhin voll auf das Leben einzulassen. Ein zu früher Rückzug, sagst du, könnte eine Art Flucht sein. Wie schafft man die Balance zwischen Verinnerlichung und „voll im Leben stehen“?
Doris Echlin: Verinnerlicht im Leben stehen wäre die Antwort, doch ist dies in Realität sehr schwierig zu gestalten. Die täglichen Erfahrungen in einem polaren Feld (in Sanskritwort heißt die Welt „ja-gat“, das was kommt und geht), ist sehr verunsichernd und unsere eigenen Reaktionen fallen oft weniger optimal aus, als wir dies von uns erhoffen. Besonders wenn die Yogapraxis innere Ebenen eröffnet, die sich lichtvoll anfühlen, kann eine Tendenz der Ablehnung zu den äußeren Lebensbedingungen entstehen. Ich bin jedoch überzeugt, dass es diese Herausforderung und Auseinandersetzung braucht, um uns immer wieder aufzuzeigen, wo wir Illusionen bezüglich unserer Reife und Entwicklung haben. Dieses Bedingungsgefüge des Lebens gilt es anzunehmen und zu erfüllen – innen wie außen, was immer.