Eine Revolution gegen festgefahrenes Denken
Der deutsche „Yoga-Philosoph“ Eckard Wolz-Gottwald veröffentlicht im März 2022 ein neues Buch mit dem Titel: „Die Bhagavadgītā im Alltag leben. Die vier großen Übungswege des Yoga“. Alexandra Eichenauer-Knoll durfte es vorab lesen und sprach mit dem Autor, der auch schon für Yoga Austria – BYO öfters in Aus- und Weiterbildung tätig war und das nächste Mal 2023 in unserem Weiterbildungskalender eingeplant ist.
Lieber Eckard, du hast die Zeit des Lockdowns genützt, um ein lange gehegtes Projekt zu verwirklichen. Du hast ein Buch geschrieben, das zum besseren Verständnis der Bhagavadgītā, aber auch zum Üben der darin enthaltenen Philosophie einlädt. Ich zitiere zwei Stellen aus deinem Buch: „Mit dem, was die Körperpraxis des Yoga zu bieten hat, könnte man so durchaus zufrieden sein. Man muss es jedoch nicht.“ Und an anderer Stelle schreibst du: „Es ist an der Zeit, sich auch des großen Potentials der anderen Wege bewusst zu werden, die in der langen Geschichte des Yoga entwickelt wurden.“ Warum ist es gerade jetzt Zeit dafür, sich nicht zufrieden zu geben?
Inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die über Jahre die segensreichen Wirkungen der Körper- und Atempraxis auf der Matte erfahren konnten. Viele von ihnen sind jetzt bereit, sich auch für den Yoga als Lebensweg zu öffnen. Yoga kann auch mitten im Leben geübt werden. Wie das geht, das zeigt die Bhagavadgītā.
Um die Bhagavadgītā besser zu verstehen, ist es zwingend, auch den historischen Kontext zu beleuchten und zu verstehen, welche Interessengruppen am Entstehen dieser Texte beteiligt waren. Einerseits werden Traditionen wie das Kastensystem verfestigt, andererseits gibt es geradezu revolutionäre Passagen. Du schreibst, dass die Bhagavadgītā auch zur Verbreitung der Bhakti Yoga Bewegung beigetragen hat, die damals gegen die verkrusteten Rituale der Brahmanenpriesterschaft rebellierte.
Der Yoga der Bhagavadgītā meint letztendlich nicht nur eine Revolution zur Zeit ihrer Abfassung. Es geht auch um eine Revolution gegenüber den Verkrustungen in unserer heutigen Zeit. Den Yoga in die Tiefe zu gehen, bedeutet Revolution gegenüber allem festgefahrenen Denken. Man begibt sich wegen Rückenschmerzen auf die Matte. Manche kehren als Revolutionär ins Leben zurück.
Ist es diese Rückbindung an existentielle Fragen und Erschütterungen, die Hoffnung gibt? Das ist jedenfalls kein Wohlfühl-Yoga. Welche Sprengkraft hat die Bhagavadgītā möglicherweise für uns Yoginis des 21. Jahrhunderts?
Ich möchte mit Sicherheit nichts gegen einen, wie du es so schön nennst ‚Wohlfühl-Yoga‘ sagen. Wir lernen in der Yogapraxis, uns wieder in unserem Körper wohl zu fühlen. Das ist gut so. Aber Yoga will mehr. Und Yoga kann mehr. In den philosophischen Texten ist viel vom ‚Erwachen‘ die Rede. Man öffnet sich in diesem Erwachen allerdings nicht für jenseitige Bewusstseinszustände, wie dies manche traditionell denkende Gurus lehren. Im Yoga geht es immer um das Hier und Jetzt. Wie wäre es, wenn wir zur Bewusstheit unserer eigentlichen Lebensaufgabe erwachen, an der wir im Alltag immer wieder vorbeilaufen? Die Bhagavadgītā nennt die jedem Menschen zueigene Lebensaufgabe svadharma, die jedem Menschen individuell zukommende innere Bestimmung. Sich seinem eigenen svadharma bewusst zu werden, hierin kann schon eine enorme Sprengkraft liegen.
Du hast Philosophie und Indologie studiert. Im Buch widmest du ein Kapitel dem Spannungsfeld zwischen hinduistischer Religion und yogischer Spiritualität. Ich denke mir manchmal, dass wir als westliche Yogabegeisterte oftmals eher ein spirituelles Folkloremix anbieten, weil man dem Yoga-Image oder vermeintlichen Erwartungen entsprechen will. Buddhastatuen gibt es ja schon im Baumarkt zu kaufen….
Unser spiritueller Folkloremix, wie du wiederum so schön sagst, muss nicht schlecht sein. Für den Anfang. Schlecht wäre es jedoch, dabei stehen zu bleiben, wenn unsere Schülerinnen und Schüler dafür bereit sind, den Weg des Yoga weiter zu gehen.
Ein Zentralbegriff der Bhagavadgītā ist svadharma. Du verdeutlichst sehr einsichtig, dass alle vier Yogawege – karma, bhakti, jñāna und dhyāna – auf ihre Weise zu dieser eigenen Bestimmung führen können, die du beschreibst als „ein Leben mitten in der Welt zu öffnen“. Du schreibst auch von „einem neuen Anfang“ oder von der „Tat, die getan werden muss“.
Alle vier Yoga-Wege der Bhagavadgītā haben ein gemeinsames Ziel, das verschüttete Bewusstsein für den svadharma, für unsere innere Bestimmung zu kultivieren. Karma-Yoga zeigt einen Weg für den Praktiker, Bhakti-Yoga für den Menschen der Hingabe, Jñāna-Yoga für den Intellektuellen und Dhyāna-Yoga zeigt den Weg des Rückzugs der Meditation und die anschließenden Rückkehr in die Welt, um jetzt nicht mehr fremdbestimmt, sondern aus der Bewusstheit für sein svadharma, für seine innere Bestimmung zu leben. Dieses Handeln ist nicht mehr durch Belohnung oder Bestrafung motiviert, sondern lebt aus einer inneren Klarheit für das, was unserem Leben wirklich Sinn gibt. Jetzt kenne ich die ‚Tat, die getan werden muss‘.
Ich hätte dein Buch schon in der Yogalehrausbildung gut gebrauchen können, denn es erklärt die einzelnen Wege übersichtlich und ordnet die zentralen Aussagen verschiedenen Themenblöcken zu. Liest man die Bhagavadgītā, verweben sich diese Wegbeschreibungen ja ineinander. Du hast auch abschließend, fast wie bei einem Schummler, die wichtigsten Aussagen und Begriffe zusammengefasst. Man merkt, du bist ein leidenschaftlicher Pädagoge. Diesen Satz von dir finde ich besonders schön: „Die Weisen besitzen nicht Weisheit. Weisheit bedeutet in ihrem tieferen Sinn, die Wachheit des Lernens zu kultivieren.“
Was nutzt es, schlaue Bücher über die Philosophie des Yoga zu lesen, letztlich aber nur hohles Wissen in den Händen zu haben. In der Yoga-Philosophie geht es darum, uns des tieferen Sinns unseres eigenen Yoga-Weges bewusst zu werden. Ich bin am liebsten mit Menschen zusammen, die auf ihrem Weg nicht stehen geblieben sind, sondern die Wachheit des Lernens kultivieren. Vielleicht ist diese Wachheit des immerwährenden Lernens sogar genau das, was Erwachen im tieferen Sinn meint.
Deine Übungszugänge sind alle sehr praktisch und westlich orientiert, sogar Bhakti Yoga wird mit Tönen und Mantra rezitieren in einer überkonfessionellen Weise praktikabel. Das war für mich neu. Gerade dieses Kapitel und dein Text über die Bedeutung des Hörens ist sehr erhellend. Jeder Weg soll so auch für westliche Übende, Frauen wie Männer, gleichermaßen offenstehen.
Die Stärke der Bhagavadgītā liegt darin, die Grundlagen für die vier großen Wege des Yoga gelegt zu haben. Auf diesen Grundlagen werden im Buch dann konkrete Übungen aufgezeigt, wie wir sie dann in unserer Zeit praktizieren können.
Wenn man Eckard Wolz-Gottwald liest, so schimmert auch ein Poet durch: „Je nachdem, aus welcher Richtung der Wind der Abhängigkeit von den Früchten des Tuns weht, wird der Mensch mit ‚umherschweifenden Sinnen‘ über die Weiten des Meeres getrieben, das Leben, oder besser Gelebtwerden heißt.“ Bist du ein Yogi, der im Schreiben seine Bestimmung gefunden hat?
Vielleicht gibt es nicht nur eine Bestimmung, sondern viele Tätigkeiten, in denen ich Erfüllung gefunden habe. Das Schreiben war sicher eine dieser Bestimmungen. In den letzten Jahren wurde für mich jedoch die konkrete Begegnung mit Lernenden auf dem Yogaweg immer wichtiger. Insofern ist es für mich etwas ganz Besonderes, nächstes Jahr im schönen Österreich eine Fortbildung zu leiten. Ich komme also nicht nur wegen des genialen, karamellisierten Kaiserschmarrns, den es so gut nur in Österreich gibt.
Wann genau wird das sein?
Ich werde nächstes Jahr für ein zweiteiliges Patañjali-Seminar nach Wien kommen (18. – 19.3.2023 und 21. – 22.10.2023). Durch die Pandemie sind wir mit unseren Planungen etwas in Verzug geraten. Bei Interesse ist es natürlich möglich, 2024 mit dem Üben des Yoga der Bhagavadgītā weiterzumachen.
ECKARD WOLZ-GOTTWALD
Mitgründer der „Yoga-Akademie Münster-Osnabrück“ und Autor zentraler Werke zur Philosophie des Yoga
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