Medizinische Grundlagen heilsamen Übens
Dr. med. Günter Niessen ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und hat eine Praxis für Yoga und Orthopädie in Berlin. Durch seine vorausgegangene Ausbildung als Physiotherapeut sowie zahlreiche Weiterbildungen in Trainingstherapie/Sportmedizin, Funktionsanalyse des Bewegungsapparates und Manueller Medizin, verfügt er über tief greifende Erfahrungen in der strukturellen Körpertherapie. Er ist außerdem zertifizierter Yogalehrer (BDY/EYU bzw. YA).
Von 10. – 11. September 2016 hielt Dr. Günther Niessen ein Fortbildungsseminar zum Thema „Yoga und medizinische Grundlagen heilsamen Übens“. Aus diesem Grund stellte ihm Alexandra Eichenauer-Knoll damals vorab ein paar Fragen:
Ich frage jetzt mal umgekehrt: Was ist für Dich „un“-heilsames Üben?
Niessen: Das ist eine sehr spannende Frage! Beantworten kann ich das natürlich nur aus meinen Erfahrungen mit den Patient/en/innen und dem was in meinen Fortbildungen an mich heran getragen wird. Verletzungen des Bewegungssystems treten meist dann auf, wenn die Belastungen beim Üben größer sind als die Belastbarkeit einzelner Gewebe. Und das ist natürlich nicht immer so leicht herauszufinden und erfordert einen fortlaufenden Dialog mit dem eigenen Körper. Zerrungen, akute oder chronische Schmerzen im Bereich des unteren Rückens oder der Halswirbelsäule, Reizungen von Sehnen der Schulterregion und viele andere Verletzungen treten auf, wenn die individuelle Einschätzung der Belastbarkeit nicht richtig ist. Meist entstehen die Probleme durch zu häufige Wiederholungen eines Bewegungsablaufes oder zu langes Verweilen in einer anspruchsvollen Haltung. Manchmal ist auch die gewählte Haltung bzw. der gewählte Ablauf für die jeweilige Person inadäquat. Ungenügendes Aufwärmen bzw. das Nachmachen von Haltungen und Bewegungen sind ebenfalls problematisch, jedoch im Gruppenunterricht häufig anzutreffen. Spannend wird die Frage natürlich erst dann, wenn man nach den zugrundeliegenden Ursachen schaut. Diese sind meist nicht in der körperlichen Ebene zu finden. Vielmehr sind es der Ehrgeiz, blindes Nacheifern, der Glaube an Vorgaben bzgl. Anzahl, Dauer oder die Art und Weise der Ausführung der Körperübungen sowie der Wunsch nach Perfektion die zum Überschreiten bzw. zur Fehleinschätzung der persönlichen Grenzen führen. Gelegentlich werden einfach die Warnsignale des Körpers nicht wahrgenommen oder schlichtweg nicht ernst genommen.
Dein Seminar behandelt die Grundlagen heilsamen Übens, was sind die wichtigsten Grundlagen für Dich, körperlich, aber auch mental?
Niessen: Aus meiner Sicht sind eine gesunde, entspannte Selbsteinschätzung und der angemessene Fokus die wichtigste Grundlage heilsamen Übens. Wie geht es mir zum Zeitpunkt des Übens? Warum übe ich eine Körperhaltung oder einen Bewegungsablauf? Wohin soll das Üben mich führen bzw. was ist das Resultat meines Übens? Wie ist die Ausführung und worauf richte ich mich aus? Wenn wir hinterfragen, was wir üben und warum wir das tun, wird so manches klarer. Wenn wir uns über die Ziele unseres Übens nicht klar sind, die Ausführung an externe Faktoren knüpfen und unsere individuelle Reaktionsweise nicht reflektieren, dann machen wir im Grunde nichts weiter als „Sport“ und verbessern im günstigen Fall unsere Fitness.
Gerade neue Schüler/innen bringen oft auch viel Ehrgeiz mit oder haben spezielle Bilder im Kopf. Wie stehst Du zu Ehrgeiz in der Yogapraxis?
Niessen: Wenn Ehrgeiz im Spiel ist, dann wird aus einer Yogapraxis ganz leicht eine Fitnesspraxis. Das ist ja auch schön und ganz in Ordnung, nur sollten wir vielleicht diesbezüglich dann den Begriff „Yoga“ weglassen. Abyasa, was gelegentlich als Bemühen bzw. Ehrgeiz verstanden und auf die Körperübungen angewendet wird, ist eigentlich – und jetzt spreche ich von dem, wie ich es von meinen Lehrern verstanden habe – das Bemühen um Fokus. Und dann dürfen wir uns fragen, worauf darf, kann und sollte ich meinen Fokus in der Yogapraxis legen? Diese Fragen dürfen uns dann auch im Seminar beschäftigen.
Hast Du das Buch von William J. Broad: How Yoga can wreck your body gelesen und wenn ja, was hältst Du davon? Es hat ja auch bei uns in Österreich viel Staub in der Szene und darüber hinaus aufgewirbelt.
Niessen: Herr Broad hat sicherlich ein heikles bzw. unangenehmes Thema angesprochen und das verdient aus meiner Sicht schon Beachtung. Kaum jemand traut sich doch in der Szene, auch auf die Gefahren des Yoga hinzuweisen. Einige der beschriebenen körperlichen Folgen unvorsichtigen Übens werden sicherlich überbetont. Unterbewertet wird aus meiner Sicht die Problematik der Abhängigkeit und des Missbrauchs in der Szene. In meiner Praxis wird mir immer wieder berichtet, wie auch im Spannungsfeld Yogaleher/in – Übende/r – Tradition gesellschaftliche und individuelle Muster bedient werden, die wirklich nicht heilsam sind. Ich finde es ganz kritisch zu erleben, dass in der Yogaszene, sobald das Wort Yoga ins Spiel gebracht wird, der gesunde Menschenverstand ganz schnell an den Haken gehangen wird.
Es passiert immer wieder, dass mir Schüler in der Folgestunde begeistert erzählen, das letzte Mal hätten sie ordentlich was gespürt, einen Muskelkater zu Beispiel. Sie sehen das positiv, sie haben dann das Gefühl etwas getan/geleistet zu haben und den Körper gefordert zu haben. Ich bin über solche Rückmeldungen nicht so glücklich. Wie siehst Du das?
Niessen: Dabei handelt es sich ja oft um junge Menschen nehme ich an? Wenn man Yoga wie Sport betreibt, muss man auch mit Sportverletzungen oder einem Muskelkater rechnen. Die Frage ist eben auch, was ich unter Yoga verstehe und was ich auf der Matte üben möchte. Ist es ein „schlanker“, „schöner“, „fitter“, „beweglicher“ werden und ein noch besseres Funktionieren im Alltag und Beruf, das ich erreichen möchte, dann ist eine Yogapraxis zur Fitness sicher in Ordnung. Viele Menschen fühlen sich gut, nachdem sie das Gefühl haben, etwas Sinnvolles gemacht oder geleistet zu haben. Die Ziele oder besser die möglichen Ziele hängen sicher auch von der jeweiligen Lebenssituation, dem Alter und anderen Faktoren ab. Wenn aber Yoga geübt wird, um sich selbst besser kennen zu lernen, um Muster – also unsere so genannten Samskaras – aufzudecken und neue zu entwickeln, um ein „work-in“ zu betreiben anstelle eines „work-out“, dann ist Muskelkater sicher keine sinnvolle Erfahrung. Ich erlebe es oft, dass viele Übende nach Verbesserung dessen streben, was sie auch im Alltag und Berufsleben schon richtig gut können oder glauben können zu müssen: besser funktionieren, effektiver arbeiten, mehr zu leisten, um sich dann in dem Gefühl, es verdient zu haben, entspannen zu können.
Bist Du als Arzt mit den Folgen unheilsamen Yogaübens konfrontiert?
Niessen: Ja, das bin ich in der Tat viel öfter als erwartet. Als ich mich vor 7 Jahren selbständig gemacht habe, um als Arzt meinen Patienten die Möglichkeiten der Yogatherapie bei körperlichen Problemen näher zu bringen, war ich wohl etwas naiv. Schon nach kurzer Zeit entwickelte sich mein Arbeitstag ganz anders als erwartet. Mehr und mehr Yogaübende aller Stile kommen zu mir, weil sie entweder trotz ihrer Übungspraxis oder durch ihre Praxis Probleme entwickeln. Die Beschwerdebilder sind sehr unterschiedlich und betreffen so ziemlich alle Körperregionen. Mir war vorher nicht so klar, dass Yoga auch solch negative Auswirkungen haben kann. Aber diese Erfahrung machen wohl sehr viele Betroffene und dann ist die Verunsicherung zunächst groß. Auch deshalb habe ich mich in der letzten Zeit mehr dem Thema „heilsames Üben“ zugewandt.
Du bist als Arzt, Physiotherapeut und Yogalehrender extrem breitgefächert ausgebildet, insbesondere was Deine Kenntnisse der funktionell-anatomischen Zusammenhänge betrifft. Wieviel Anatomiekenntnisse sollte Deiner Meinung nach ein/e Yogalehrende/r trotzdem besitzen und wie siehst Du die derzeitigen Ausbildungsstandards?
Niessen: Zum Thema Ausbildungsstandards kann ich im Grunde nicht viel sagen, glaube aber, dass die meisten Schulen im Rahnen ihrer Ausbildungsangebote versuchen, möglichst viele Themen abzudecken. Manchmal fehlt vielleicht die Kompetenz, um auch relevante medizinische Aspekte zu vermitteln. Es geht eben nicht darum, wie welcher Muskel heißt oder wie er verläuft, sondern darum, gesunde und sinnvolle Bewegungsmuster zu fördern, die unser Wohlbefinden auf der Matte und im Alltag steigern. Körperübungen im Kontext des Yoga sind ja im Grunde Vorbereitung auf ein stabiles und angenehmes Sitzen, das uns wiederum ein gutes Atmen und einen sinnvollen Fokus zur Meditation ermöglicht. Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, ob man übt, um fit zu werden, um einem körperlichen oder mentalen Problem zu begegnen oder um sich spirituell weiter zu entwickeln. Zu mir kommen die meisten Menschen natürlich aus therapeutischen Gründen und in diesem Zusammenhang ist es dann auch wichtiger, die funktionell-anatomischen Zusammenhänge beurteilen zu können. Die Vermischung von Ideen zur spirituellen Weiterentwicklung mit therapeutischen Zielen oder körperlicher Fitness führt oft dazu, dass inadäquate und für den Einzelnen mitunter auch verletzende Asana geübt werden. Wenn sich die Yogalehrenden darüber im Klaren sind, wen sie unterrichten, warum sie es tun und mit welchen Mitteln sie es tun, dann gäbe es sicherlich weniger Verletzungen durch die Übungspraxis. Wer geht zum Beispiel in den Pflug? Warum tut er oder sie es? Was ist das Ziel bzw. das Resultat solchen Übens? Welches Risiko geht der bzw. die Übende im jeweiligen Asana ein und übt der/die Yogalehrer/in es auch selbst? Und warum? Vielleicht geht das in diesem kurzen Interview zu weit, aber persönlich glaube ich, dass viele Verletzungen im Yoga auch vermieden werden könnten, wenn wir uns solche Fragen stellen und mit gesundem Menschenverstand nach Antworten suchen. Dann sind die funktionell anatomischen Gegebenheiten nicht mehr ganz so relevant.
Im Seminar wirst Du detailliert auf Verletzungsmechanismen eingehen, möchtest Du uns hier schon ein Beispiel geben?
Niessen: Detailliert ist natürlich abhängig vom Betrachtungsstandpunkt. Wir haben nur zwei Tage zum Austausch und ich werde versuchen, einige Mechanismen darzustellen die zur Verletzung führen. Noch wichtiger aber ist es mir, positive Akzente zu setzen und eine Übungsweise vorzustellen, die erst gar nicht zu Verletzungen führt. Genau deshalb habe ich auch den Titel so gewählt. In meinen Yogatherapie-Seminaren ist die Herangehensweise ja eher umgekehrt: Von der Verletzung ausgehend, probieren wir Lösungen zu erarbeiten. Im Seminar würde ich gerne zeigen, wie der Gedanke der Prophylaxe auch im Üben umgesetzt werden kann. Wann ist ein Asana angemessen? Welcher Fokus ist sinnvoll? Wie kann eine Bewegung möglichst schonend und sinnvoll durchgeführt werden? Wie steht es um dynamisches Üben versus Halten? Welche Variationen können für den Einzelnen sinnvoll sein? Es wird also vielmehr um solche Fragen gehen und wenn es möglich ist, versuche ich diese Fragen auch für die Teilnehmer/innen direkt praktisch umzusetzen. Ich bin selbst gespannt, wie das funktionieren wird.
Du bist derzeit sehr beschäftigt, weil das Ehepaar Mohan in Berlin ist – welche Beziehung hast Du zu ihnen?
Niessen: Ja, Anfang August waren Indra und AG Mohan zu Gast in Berlin, gestern sind sie nach München weiter gereist, um dort zu unterrichten. Für mich waren und sind die beiden seit 11 Jahren eine unglaubliche Bereicherung und Inspiration. Es macht einfach viel Spaß zu erleben, wie sie Yoga Leben und im Alltag umsetzen. Sie bringen so viel Klarheit und Einfachheit auch in meine Perspektive und meinen Umgang mit meiner Yogapraxis. Ich mag es einfach, wenn die Lehrer, zu denen ich gehe, auch das tun und umsetzen, wovon sie reden. Und um so schöner ist es, wenn dann viele Jahrzehnte des Studiums und der Praxis mit einer solchen Leichtigkeit vermittelt werden können.