Vermittlerin zwischen den Welten
Die Indologin Bettina Bäumer beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Tradition des „kaschmirischen Shivaismus“. In Indien wurde sie Schülerin des letzten Meisters des kaschmirischen Shivaismus, Swami Laksman Joo. Seit 1967 lebt sie in Varanasi (Indien) und forscht in Sanskrit, indischer Philosophie und Kunst. Bettina Bäumer ist Autorin mehrerer Bücher über indische Spiritualität und Kunst und verfasste eine Reihe von deutschen Übersetzungen wichtiger Texte der Hindi-Traditionen.
2015 lehrte sie Textstudium und Meditation im Rahmen eines BYO-Sommerseminars. Für unseren Newsletter beantwortete sie damals geduldige einige Fragen.
In welcher Tradition stehst Du? Was ist die Essenz, der Kern dieser Tradition?
Bettina Bäumer: Die Tradition wird ungenau „kaschmirischer Shivaismus“ genannt, genauer Trika (die triadische Tradition) oder Pratyabhijna, die Philosophie vom Wiedererkennen (Gottes im eigenen Selbst). Sie umfasst mehrere tantrische Strömungen, wie Kula, Krama und eben Trika, sowie Spanda, die Schule von der Schwingung des Bewusstseins. Sie basiert auf den von Shiva geoffenbarten Tantras, eine umfassende Literatur, die Ritual, Yoga, Philosophie u.a. Themen enthält. Von anderen tantrischen Strömungen unterscheidet sie sich, da sie eine nichtdualistische Lehre und Praxis vertritt, d.h. es geht um die Vergöttlichung, auch des Körpers, und um die Einheitserfahrung mit Shiva oder dem Absoluten (Anuttara).
Was ist dein Anliegen bei der Weitergabe/Vermittlung der Lehren?
Bettina Bäumer: Mein Anliegen ist es, erst einmal diese Tradition bekannt zu machen, auch im Unterschied zu dualistischen Lehren wie Samkhya und davon beeinflusst Yoga, und zu Vedanta, der mehr monistischen Form des Advaita. Aber mehr als Bekanntmachen, es geht mir um die Kontinuität und erfahrungsmäßige Fortsetzung der Tradition, die auf viele spirituelle Fragen und Probleme heute eine Antwort sein kann. Gleichzeitig geht es mir um eine authentische Darstellung und Praxis, denn unter dem Namen „kaschmirischer Shivaismus“ ist heute vor allem in Europa viel Unauthentisches unterwegs, ohne Rückbezug auf die Tradition, ohne Kenntnis der Quellen usw.
Ist Deine Art des Unterrichtens in Indien anders als in Europa? Was ist das größte Interesse der Menschen?
Bettina Bäumer: In Indien fällt es mir leichter zu unterrichten, weil dort schon viel an Hintergrund und Verständnis für eine spirituelle Tradition vorhanden ist. Ich kann dort auch mehr mit Sanskrit arbeiten, auch wenn nicht alle meine Teilnehmer Sanskrit können, aber der Wortschatz ist leichter verständlich, auch aufgrund der indischen Sprachen.
Das Interesse der Menschen, die zu meinen Seminaren und Retreats kommen, ist im Grunde das gleiche: eine spirituelle Suche, die sich auch ernsthaft von den Quellen der Tradition bereichern lässt. Die Texte, die ich unterrichte, sind anspruchsvoll und verlangen ein ernstes Interesse. Manche Teilnehmer sagen dann, wenn sie denselben Text für sich lesen, finden sie keinen Zugang dazu, aber in der lebendigen Weitergabe, verbunden mit Meditation usw. wird der Text lebendig und auf das eigene spirituelle Leben anwendbar.
Gibt es Projekte für die Zukunft?
Bettina Bäumer: Ich arbeite an zwei Publikationen, einem Gedenkband für einen bedeutenden Pandit aus Varanasi, der den kaschmirischen Shivaismus gelehrt hat. In dem Band will ich auch meine Übersetzung der Yoga-Kapitel des Netra Tantra, das ich seit 2013 lehre, mit Einführung publizieren.
Ein anderer Band wird meine gesammelten Schriften bzw. eine Auswahl daraus enthalten (auf Englisch), dabei befinden sich auch wichtige Themen, die zum Verständnis dieser Tradition beitragen.
Eine weitere Publikation ist bereits im Druck, sie enthält Beiträge über den bedeutenden kaschmirischen Philosophen Utpaladeva (9. Jh.) und soll 2015 erscheinen. Weiters plane ich einen einführenden Band zu derselben Tradition, der meine Vorträge zu Themen daraus enthalten wird.
Zu den Plänen gehört auch die Fortsetzung meiner Arbeit in meiner Bibliothek in Varanasi, die etwas wie ein Zentrum für Suchende und Studierende dieser Tradition darstellt. Dort gebe ich auch Privatunterricht zu verschiedenen Texten.
Wie schon erwähnt ist mir aber die lebendige Weitergabe der Tradition und ihrer reichen spirituellen Texte ein Herzensanliegen.
Deutsche Übersetzungen von wichtigen Texten waren geplant, doch hat der Verlag der Weltreligionen (in dem auch mein Vijnana Bhairava erschienen ist) den Vertrag beendet und ich habe somit mit meiner Übersetzungsarbeit aufgehört.
Was hat Dich bei dem letzten Seminar im Juli: „Das Herz des Wiedererkennens – das Wiedererkennen des Herzens“ inspiriert/ erfreut?
Bettina Bäumer: Es war mir bewusst, dass es kein leichter Text ist, besonders für Teilnehmer, die kein oder fast kein Sanskrit können. Aber trotz diesem Hindernis hat der Text eine solche Tiefe, dass er auch so gewirkt hat, auch aufgrund der Ernsthaftigkeit der Teilnehmenden. Es war von Anfang an klar, dass die Meditation den Boden für das Verständnis des Textes bereitet, und so war es auch. Es geht letztlich um die mystische Praxis, die erst gegen Ende des Textes beschrieben wird, und es ist sicher etwas davon durchgedrungen. Daher ist die „Mitarbeit“ zwischen Lehrer, Text und Teilnehmenden wesentlich, um das zu bewirken, was der Text enthält.
Wie bist Du das erste Mal mit den Lehren in Kontakt gekommen?
Bettina Bäumer: Einerseits war es die Lektüre der französischen Übersetzungen von Lilian Silburn, die mein Interesse geweckt hat, dann habe ich die Sanskrittexte selber studiert (in den 70er Jahren). In Varanasi war es auch der Kontakt mit dem Übersetzer der Texte, Jaideva Singh. Beide waren Schüler von Swami Lakshman Joo von Kashmir. Endlich bin ich 1986 in Kashmir diesem letzten Meister begegnet und durfte seine Schülerin werden. Das hat mir die Tore des Verständnisses und der Erfahrung geöffnet und mich ganz in die Tradition hineingeführt.
Was ist Dein größter wunschloser Wunsch?
Bettina Bäumer: Der größte Wunsch ist, dass diese Tradition weiterlebt, so wie ich sie in aller Tiefe und Authentizität erfahre habe. Was ich dazu beitragen kann ist sicher nichts im Vergleich mit der Größe und Tiefe dieser Spiritualität, doch hoffe ich auf Schüler, die sie fortsetzen können, die die Kenntnis mit der Erfahrung verbinden, wie es bei dem letzten Meister der Fall war.