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Yoga in Kriegszeiten

Der ukrainische Yogalehrer Dimitrios Danilidis ist derzeit interimistischer Präsident der EYU. Alexandra Eichenauer-Knoll traf ihn im Sommer 2024 in Zinal und regte an, dass er doch einen Text über seine schwierige Situation, über Yoga im Krieg, schreiben könnte. Nun hat er uns einen Text geschickt, den Eva Panny ins Deutsche übersetzt hat. Es gab im Zuge dessen Diskussionen darüber, wie die Bhagavad Gita zu deuten wäre und ob sie in diesem Kontext erwähnt werden sollte, sei sie doch ein Text, der nur auf den Inneren Kampf gemeint wäre. Wir entschlossen uns aber dazu, den Text so zu veröffentlichen, schließlich ist es die Meinung des Autors und kein offizielles Statement von Yoga Austria – BYO. Außerdem: Wer weiß, was wir in seiner Situation schreiben würden…. Wir sehen die Veröffentlichung  jedenfalls als ein Zeichen von Solidarität und Wertschätzung gegenüber Yoga-Kollegen, die in großer Bedrängnis sind. Das Foto aus „besseren Tagen“ zeigt das große Interesse und auch die Experimentierfreude ukrainischer Yogaübender.

 

Krieg und Yoga. Vor zehn Jahren hätte niemand, vor allem im westlichen Yoga-Umfeld geglaubt, dass diese beiden Begriffe zusammenpassen. Doch die Geschichte des Yoga belehrt uns eines Besseren. Die Bhagavad-Gita, eine der vielleicht am meisten geschätzten Schriften, spielt auf einem Schlachtfeld, auf dem der Wagenlenker Krishna Weisheiten unterschiedlicher yogischer Wege an einen von Zweifeln zerrissenen Arjuna vermittelt. Parallel dazu wurden in verschiedenen tantrischen Traditionen im Laufe der Geschichte Rituale in konfliktreichen Zeiten angewandt und yogische Anweisungen spielten bei kriegerischen Auseinandersetzungen oft eine entscheidende Rolle.

Trotz dieser belegten Beispiele idealisieren heutige Praktizierende oft ihr Yoga und meinen, dass er über all diese brutalen Geschehnisse erhaben ist. Aber kann sich der Yoga wirklich von diesen Herausforderungen, mit denen Menschen konfrontiert sind, herausnehmen? Geht einfach nicht! Der Yoga ist kein abstraktes Übungssystem, er lebt von allen, die ihn praktizieren und die in der Welt, so wie sie ist, leben, kämpfen, ihre Freude haben und durchhalten. Egal ob auf den Feldern von Kurukshetra oder im Chaos am Trafalgar Square, Yoga bleibt ein unerschöpfliches Werkzeug und eine wertvolle Hilfe, um körperliche, emotionale und geistige Krisen und Herausforderungen zu bewältigen.

Dieser Artikel beleuchtet, was es heißt, Yoga in diesen kriegerischen Zeiten zu üben, Erfahrungen auszutauschen, sich auf besondere Gefühle einzulassen und sich grundlegende Fragen zu stellen, die uns herausfordern, ganz in uns zu gehen.

Die ersten Kriegstage: Ein Zeitsprung, wir halten den Atem an

Meine Wohnung in Kiew. Noch ist es dunkel, die morgendliche Stille wird von Explosionen durchbrochen, die mein Wohnhaus beben lassen. Ich springe hastig aus dem Bett, mein Herz rast und ich wusste instinktiv: „Da explodieren Bomben“. Ich kannte diesen Bombenlärm aus Mariupol im Jahr 2014. So schnell ich konnte schnappte ich mein Geld, meine Dokumente und meine Autoschlüssel, es gab kein Zögern. Ich hatte nur ein Ziel: meine Tochter zu holen und die Stadt zu verlassen. Und binnen zehn Minuten hatte ich es geschafft.

Auf den Straßen war es ruhig, die Luft dunstig, einige Leute waren flott, aber still unterwegs. Zum ersten Mal konnte ich bewusst ausatmen, als ich wusste, dass meine Tochter in Sicherheit war.

Ich habe schon Krieg erlebt, aber dieser war anders. 2014 war es eine Invasion in kleinen Schritten: Russische Streitkräfte, die zivil bekleidet und mit kleiner Munition in der Donetzk-Region eindrangen. Aber jetzt begann eine Totalinvasion mit Panzern, Flugzeugen und schwerer Artillerie, die unsere Grenzen durchbrachen, unsere Städte zerstörten und gnadenlos auf Zivilisten zielten. Es war ein völlig surrealer Zustand: Einerseits ging in den Städten das tägliche Leben weiter, andererseits herrschte gleichzeitig die totale Zerstörung.

Zunächst wollte ich die Realität ausblenden, mich an einen Hoffnungsschimmer klammern. Bilder aus früheren Kriegen – im Irak, in Jugoslawien, Tschetschenien – tauchten in mir auf, aber sie kamen nicht an den Schrecken heran, den ich jetzt erlebte, es war wie der Zweite Weltkrieg.

Nur diesmal war Russland der Angreifer, eine sehr schmerzhafte Erkenntnis, denn aus den früheren Freunden wurden Feinde, ein Bild zerschmettert, ersetzt durch die Einsicht „Wir sind nicht sie“.

In mich zurückgezogen: Unbekannte Gefühle entdecken

In diesen ersten Tagen fühlte ich mich wie in einem traumähnlichen Zustand. Meine Welt war grotesk geworden und versuchte mich und alles, an dem mein Herz hing, zu vernichten. Schließlich gewann die Realität Oberhand, alles fand statt und ich musste es akzeptieren. Es war kein grausamer Witz, sondern die neue, schreckliche Wahrheit.

Unser Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern war immer aktiv, hat Barrikaden gebaut, sich als freiwillige HelferInnen eingebracht und alles geschenkt, was es hatte. Yoga-Studios wurden zu Schutzplätzen, Verteilungszentren und improvisierten Workshops zur Tarnung und für Verpflegung. Die Europäische Yoga Union (EYU) hat dabei eine sehr entscheidende Rolle gespielt. Sie hat eine Facebook-Gruppe gegründet, um geflüchteten ukrainischen Frauen und Kindern bei Familien in Europa Zuflucht und Geborgenheit zu gewähren und eine neue Heimat zu finden. Viele Yoga-Lehrende in ganz Europa, in Deutschland, den Niederlanden, Rumänien, der Schweiz, Frankreich, Spanien… haben tatkräftig mitgeholfen.

Trotz all unserer Bemühungen waren unsere Herzen und Gedanken immer an den Fronten, gespalten zwischen den Soldaten und unseren Angehörigen, die wir lieben und die im Chaos gefangen sind. Es war schwierig, Informationen von ihnen zu erhalten und mit ihnen zu kommunizieren. Über Nachrichten-Apps wie Telegram sind wir in Verbindung geblieben und ich konnte immer noch Freunde in Mariupol, meiner Heimatstadt, erreichen, die unter schwerem russischen Beschuss standen. Meine Mutter, Verwandte, Freunde und viele meiner Yoga-SchülerInnen und Lehrer sind noch dort. Eine Woche bevor der Krieg ausbrach, war ich noch in Mariupol, habe mich mit Leuten getroffen, mit ihnen gesprochen, gemeinsam Zeit verbracht und Yoga praktiziert. Ein paar Tage später wurde die Lage kritisch und wir diskutierten Evakuierungspläne, überlegten, ob wir das Yoga-Studio als Zufluchtsraum nutzen sollten, und tauschten uns darüber aus, was zu tun sei, falls die feindlichen Angreifer die Stadt besetzen. Leider verschlechterte sich die Lage in Mariupol zusehends.

Mein Yoga-Lehrkollege, Timor Shevchuk, der als Militäroffizier dient, rief mich von der Front an. Er ist seit dem Angriff der Russen im Einsatz und unsere Gespräche waren immer kurz und auf dem Punkt. Aber diesmal hörte es sich anders an, er klang sehr gestresst und es war klar, dass sich die Lage sehr verschlechtert hatte. Die Stadt war eingeschlossen und er sagte, dass dies unser letztes Telefonat sein könnte, da sich alle in die Stadt zurückziehen, und es sein kann, dass jegliche Kommunikation nicht mehr möglich ist.

Inzwischen haben wir keinen Kontakt mit Timur mehr. Wenn Freunde oder SchülerInnen zu mir durch kommen, erhalte ich neue Nachrichten. Inzwischen habe ich erfahren, dass unser Yoga-Studio als Zuflucht für über 200 Personen dient, Kinder und Haustiere inklusive. Essen und Trinken ist Mangelware und das Bombardement findet kein Ende.

Seit sechs Wochen habe ich nichts mehr von meiner Mutter gehört, die es geschafft hat, aus Mariupol hinauszukommen und in einem Schutzbunker Unterschlupf zu finden.

Dies ist nur ein kleiner Einblick in all das, was geschehen ist. Mariupol hat das Schlimmste erlebt, aber auch andere Städte wurden heftig angegriffen und leben in ständiger Unsicherheit. Viele Gefühle wie Leid, Angst, Trauer, Enttäuschung, Stolz, Fürsorge, Zorn und Verachtung herrschen im ganzen Land. Sie sind real, wühlen auf und sind viel tiefgehender als die Gefühle, die in TV-Serien gezeigt werden.

Yoga-Ethik im Angesicht des Krieges

Beim Yogastudium vertiefen wir uns in Ahimsā (Gewaltlosigkeit), Dharma (Gesetz, Recht, Sitte), Maitri (Herzensgüte), Karunā (Mitgefühl), Asteya (Nicht-Stehlen) und viele andere Themen. Wir lesen die Schriften, analysieren ihre Bedeutung, erörtern sie mit Gleichgesinnten und sind sicher diese Werte zu leben.

Krieg stellt diese Werte auf die Probe, er rüttelt an all dem, von dem du bisher überzeugt warst. Krieg zwingt dich, genau hinzuschauen, was zählt für mich, wo sind meine Schwächen und Stärken und wie haben sich meine Beziehungen, mein Umfeld verändert?

Der Krieg ist nicht nur eine Probe für individuelles Wachstum, er stellt dich auch vor moralische und kulturelle Herausforderungen. Er bedeutet Verlust: Freunde, Gebäude, Kulturgüter, Träume und auch nahe Familienmitglieder. Wie lässt sich Ahimsā mit all dieser Gewalt erklären? Das ist eine Frage, mit der ukrainische Yogis kämpfen.

Außerdem ist die Verbindung zu russischen Yogis, Freunden und Familien abgebrochen oder sehr schwierig aufrechtzuerhalten. Wie damit umgehen? Ein schwieriges Dilemma für die ukrainischen Yogis.

Abgesehen von Asteya – wie geht man mit der Zerstörung von Häusern, Geschäften und ganzen Städten um – taucht oft das Gefühl der Schuld auf: Ich habe die Bombardierung überlebt, aber konnte andere nicht retten oder Zerstörung verhindern. Die Aufarbeitung dieser Gefühle kann nicht mit Meditation allein geschehen, sondern erfordert philosophische und praktische, psychologische Unterstützung.

Diese Fragen sind nicht nur Theorie, sie sind dringend und für viele Leute greifbare Realität. Einige dieser Fragen bleiben unbeantwortet, aber wir machen uns weiter auf die Suche, Lösungen zu finden. Yoga muss sich mit der Komplexität moderner Kriegsführung auseinandersetzen und seine spirituellen, karmischen und energetischen Dimensionen erforschen. Die Antworten werden noch eine Weile brauchen, aber es ist entscheidend, weiter zu suchen und dran zu bleiben.

Meine Schlussfolgerung

Die Bhagavad-Gita beginnt mit einem verzweifelten Arjuna, der inmitten von Freunden und Familie auf beiden Seiten des Schlachtfeldes den Krieg hinterfragt. Krishnas Lehren und Hinweise verändern seine Sichtweise und ermöglichen ihm ein neues Verständnis auf Yoga und das menschliche Wesen.

Ich hoffe, dass in diesem Krieg das Leiden, der hartnäckige Widerstand und alle Erfahrungen letztlich sinnstiftende Spuren hinterlassen werden. Vielleicht wird wie bei Arjuna ein tieferes Verständnis entstehen und dieses den Yoga in eine neue, einfühlsamere Richtung steuern.

Ein Text von Dimitrios Danilidis, interimistischer Präsident der EYU, Yogalehrer in der Ukrainian Federation of Yoga, Leiter des Teams „Yogis Without Borders“

Übersetzung aus dem Englischen: Eva Panny

 

Originalversion in Englisch als PDF

Yoga In Times Of War

Krieg, Yoga